Heute Morgen fiel es mir wie Schuppen von den verquollenen Augen: Das Alter ist da. Tiefe Furchen graben sich durch das Dekolleté, die Tränensäcke sind grösser als die dazugehörigen Augen, was gar nicht so schlimm wäre, wären sie nicht unregelmässigen Auswuchses. Das eine Auge kriege ich beinahe auf, das andere beinahe nicht. Sieht nicht schön aus, aber immerhin fallen dadurch die Krähenfüsse weniger auf.
Auch die Haare sind ein Problem. Diejenigen die ausfallen genauso wie die paar wenigen, welche noch da sind. Die teuersten Volumenshampoos können mein Schnittlauch nicht zu einer Frisur motivieren. Vermutlich bleibt mir nur der Kahlschlag oder aber die Perücke, die sich in die Reihe meiner Ersatzteillager nahtlos einfügen würde, ich trage ja auch in den BH eingearbeitete Brüste und Höschen, die meine Mitte hinten hochpushen und vorne zusammenpferchen.
Langsam aber sicher bekomme ich eine Ahnung davon, weshalb Mann sich ab 35 hin und wieder ein Vögelchen gönnt, das am Morgen noch in etwa so aussieht wie man es vom Abend zuvor in Erinnerung hat; strahlend, rosig und straff. Dass eben dieses Vögelchen meist mühselig viel und viel zu laut zwitschert, kann in der Freude ob der laut pochenden Erektion auch mal untergehen. Ich kann das verstehen, denn seit heute ist mir bewusst: Mein Anblick ist morgens keiner sexuellen Freude zuträglich. Ich sehe aus wie ein toter Geier.
Und nur zur Präzision: Nein, ich hatte keine alkoholgeschwängerte, exzessive Nacht. Ich schaute einen Film auf Arte, trank Kräutertee ungezuckert, las danach noch ein wenig in einem Roman und sank schliesslich für acht Stunden in einen tiefen, gesunden Schlaf. Trotzdem. Toter Geier. Doch was solls, denke ich, mich zeichnen in meinem Alter eben andere Qualitäten aus. Eloquenz zum Beispiel. Oder Unabhängigkeit. Zudem weiss ich, was ich will. Momentan wäre ich zum Beispiel echt gerne ein rosiges, straffes Vögelchen.
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