Ebubzipation

Hin und wieder fahre ich am Morgen einen Teil meines Arbeitsweges mit dem Bus. Ich tue das nicht regelmässig, weil der Bus jeweils vollgestopft ist mit Schülern und nicht jeden Morgen bin ich in der Verfassung, mir blödes Geschwätz anzuhören und den Blick in die zarten, faltenlosen Gesichtchen ertrage ich auch nicht immer gleich gut. Allerdings bietet so ein Bus voller Jugend auch massenhaft Potential für Geschichten.
Neulich ist unterwegs ein Bub zugestiegen, der war etwa sieben Jahre alt. Auf den Rücken geschnallt hatte er einen enormen Rucksack und in der Hand trug er ein Trottinett, welches er diversen aus Platzplangel stehenden Passagieren vors Schienbein knallte. Auf der aussichtslosen Suche nach einem freien Sitzplatz ortete er das Mädchen, das neben mir sass. Sie war einiges älter als er, sicher schon zwölf und hatte wunderschöne schwarze Afrolocken. Rücksichtlos quetschte er sich samt Rucksack und Trotti zwischen den stehenden Leuten zu ihr durch, stellte sich vor sie hin und sagte: «Ich will hier hinsitzen!».
So. Und nun stelle man sich vor, was da passierte: Mein Blutdruck stieg, mein Hals schwoll an, meine Augen traten hervor und ich wollte eben zu einer Tirade über Rücksicht, Anstand und  Gleichberechtigung ansetzen, ja ich wollte dem selbstgefälligen Burschen mitteilen, dass er durchaus nicht immer alles, was er sich wünsche, auch bekommen könne, auch wenn er das vermutlich von zu Hause aus so gewohnt sei und dass er sich zumindest in der Öffentlichkeit ein wenig Mühe geben könne, sich nicht sofort als rassistischer Macho-Arsch zu outen, dass abgesehen davon immer noch der Ton die Musik mache – da stand das Mädchen wortlos auf und gab ihren Platz frei.
Meine emanzipierte Seele erlitt einen Schlaganfall. Die zart spriessende Hoffnung, dass die Zeiten der Unterdrückung und des Patriarchats nun allmählich vorbei sein könnten, war in diesem Moment getötet worden. Wie noch vor 100 Jahren, so kommt ein Mann auch heute mit Dreistigkeit sehr weit, während die Frau sich vornehmlich in Rücksicht und Geduld übt. Und meine eigene Reaktion auf die Geschichte war schliesslich keinen Dreck besser. Aus lauter Frust und Überforderung schluckte ich nämlich den ganzen Ärger runter und stieg irgendwann gehässig aus, ohne das Arschloch-Kind eines Blickes zu würdigen. Am nächsten Tag nahm ich jedenfalls wieder den Zug.

Bild: © NinaMalyna – Fotolia.com

Dieser Beitrag wurde am 20. Dezember 2013 um 09:55 veröffentlicht. Er wurde unter Babykram, Menschenskind abgelegt und ist mit , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

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