Alter Falter
Manchmal – also immer öfter – mag ich mich am Morgen nicht sehen. Am Nachmittag auch nicht. Am Abend geht’s, je nach Alkoholpegel. Es ist drum so; ich werde alt. Jetzt könnte man sagen, da kündigt sich möglicherweise eine kleine Midlife-Crisis an. Ich sage: Nein, es kündigt sich halt einfach ein neues Thema an. Mit 15 war’s die Entscheidung über die berufliche Zukunft, mit 25 waren’s Beziehungskisten, mit 35 die Familienfrage und mit 45 ist es eben das Altern.
Immer mehr Menschen in meiner Umgebung beginnen, sich die Lippen auf- und die Falten wegzuspritzen, Fett runter- und Brüste raufzufahren. Leichte Optimierungen sind das, die dazu führen, dass die Leute auch ü 40 unfassbar frisch aussehen, so ganz ohne Zornesfalten, mit glänzend gefärbter Mähne und dynamischer Figur. Ich beobachte dieses Jugend-Phänomen mit grossem Interesse und frage mich immer wieder, wie ich dazu stehe. Joah. Ein bisschen Botox ist in etwa gleich teuer wie ein in Italien handgenähter Lederschuh. Eine Flasche Färbemittel günstiger als ein Drink in der Bar. Dennoch wehrt sich in mir etwas dagegen.
Vermutlich ist es der Gedanke an die Bilder der mumifizierten Hollywoodstars, die mit 25 genau gleich aussehen wie mit 75, an die ausdruckslosen (zugegeben faltenfreien) Gesichter mit den kleinen Näschen, den grossen Augen und den noch grösseren Lippen. Mir schaudert beim Gedanken, dass in 100 Jahren die Menschen als geklonte Zombies durch die Welt laufen. Ich hätte es gerne natürlicher. Individueller. Cooler. Tja. Und da bin ich eigentlich auch schon bei des Rätsels Lösung: Ich bleibe am besten so, wie ich nun eben bin.
Das leicht hängende Oberlid, die Falten, der wabblige Arsch, die grauen Haare und der knittrige Bauch sind nämlich Zeichen meines Lebens. Und ja, ich habe meine Jahre nicht ausschliesslich mit stillem Wasser, Sport und genügend Schlaf verbracht. Ich habe gefeiert, getrunken, geraucht, geheult, gearbeitet, herumkrakeelt, gevögelt, gelitten, gelacht, geboren und auch mal eine Droge ausprobiert. Ja will ich denn nun das Resultat dieses umfassenden Lebens ausradieren, damit ich aussehe wie eine 16-Jährige, die eben den Schulabschluss gemacht hat? Nein, lieber nicht.
Es bleibt mir also nur eins: Ich muss mein Altern mit Würde tragen. Das ist leicht dahingeschrieben – aber in Realität ganz schön schwierig. Altern bedeutet nämlich, gesellschaftlich nicht mehr relevant, ja unsichtbar zu sein. Mehr noch; eine Last. Finanziell und personell. Ich muss also nicht nur damit klarkommen, dass mein Körper gemäss aktuellem Schönheitsideal eine Zumutung ist, sondern auch, dass meine gesamte Existenz bald schon zur Zumutung werden wird. Es ist heutzutage nicht sexy, alt zu sein, reich an Erfahrungen und Wissen. Sexy ist immer nur jung und knackig. Faltenfrei und braungebrannt, langhaarig und bauchfrei.
Dass auch 20-Jährige alt sein können und 80-Jährige jung, dass Jugend keine Frage des Alters ist – ich weiss es. Einen Oscar gibt’s nicht für besonders schönes Aussehen, sondern für besonders authentisches Auftreten. Das alles ist mir klar. Es zu verinnerlichen ist eine andere Sache.
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25 Nov
Dieser Beitrag wurde am 25. November 2021 um 21:22 veröffentlicht. Er wurde unter
Falten, Speck & graue Haare abgelegt und ist mit
Alter,
Botox,
Falten,
graue Haare,
Hollywood,
Leben,
Midlife-Crisis,
Schönheit,
Schönheits-Operationen,
Vergänglichkeit getaggt.
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Oh, I can feel you!
So gut geschrieben! Und ja, bittebitte bleib‘ einfach, wie du bist-nämlich ganz wunderbar und trotzdem – oder grade deswegen – wunderschön! 😘
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Ich danke dir so! Und gell, eigentlich wäre es ja am Sinnvollsten, endlich einmal das Image des Alterns aufzupolieren, anstatt die Zeichen der Zeit unter riesigen Anstrengungen laufend zu vertuschen. Vielleicht schaff ich’s ja. Garantieren kann ich aber nix! 😉
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