Mutter des Jahres

Seit einigen Wochen bin ich Mutter zweier Buben. In der Regel fehlen mir seither rund sechs Arme, drei Beine und 756 Meter Nerven. Dennoch bin ich täglich aufs Neue bemüht, nicht dem Wahnsinn anheim zu fallen. Ich stelle meine persönlichen Bedürfnisse hinten an – oder besser; ich habe mir persönliche Bedürfnisse abgewöhnt. Neuerdings komme ich tagelang ohne feste Nahrung und ohne Toilettengang aus.
Wenn der Zweijährige mal wieder in einem Anfall von akutem Trotz feststeckt, versuche ich, nicht allzu laut zu brüllen und keine gefährlichen Gegenstände nach ihm zu werfen. Ich atme tief durch, wenn meine Wirbelsäule knirscht, weil das Baby seit fünf Stunden herumgetragen werden will und der Grosse auch, weil Gleichberechtigung für alle. Der Grat zwischen Zufriedenheit und Verzweiflung ist schmal, habe ich gelernt, für alle von uns.
Kürzlich machte ich mich auf den Weg, um den Grossen aus der Kita zu holen. Es war mir gelungen, pünktlich mit einem frisch gestillten, gewickelten Baby aus dem Haus zu kommen. Selbst die obligate Milch-Kotze-Spur auf meiner Schulter ging in der gemusterten Bluse wunderbar unter. Sprich; alles bestens. Ich freute mich, bald den inoffiziellen Titel «Mutter des Jahres» den meinen nennen zu dürfen. Am Brunnen vor der Kita (Trinkwasser – kein Grund, die KESB zu alarmieren!), füllte ich kurz die Trinkflasche des Zweijährigen auf, weil er nach einem Tag spielen immer säuft wie ein tschechischer Bierbrauer. Da hörte ich hinter mir ein Auto hupen.
Ich blickte zurück. Und sah den Kinderwagen, bemannt mit dem wenige Wochen alten, friedlich schlummernden Baby, über die stark befahrene Kreuzung den Hügel hinunter rollen. Die Bremse. Ich hatte vergessen, die Bremse zu fixieren. Doch für Panik blieb keine Zeit. Ich rannte. Schnell. Während der Wagen gemäss dem Gesetz der gleichmässig beschleunigten Bewegung an Tempo gewann und direkt auf einen Betonpfeiler zusteuerte, nahm ich alles wie in Zeitlupe wahr: Die anfahrenden Autos, die schockiert dreinblickenden Menschen am Strassenrand, meinen gestreckten Galopp.
Kurz bevor der Kinderwagen in den Beton donnerte, bekam ich ihn zu fassen. Der schlafende Babykörper rutschte mit der abrupten Bremsung nach oben. Durch den Aufprall erwachte das Bübchen. Und strahlte mich an, als hätte es eben etwas ungeheuer Schönes geträumt. Währenddessen schoss mir der Schweiss aus sämtlichen Poren und mein Herz explodierte im Hals.
Ich weiss nicht mehr so genau, wie ich mit den beiden Buben an diesem Abend nach Hause kam. Doch da schenkte ich mir als erstes mit zittrigen Händen ein Glas Wein ein und verkroch mich für eine Fluppe auf die Terrasse. Den Titel «Mutter des Jahres» strich ich mir ein für allemal ans Bein.
Dieser Beitrag wurde am 3. Oktober 2018 um 08:55 veröffentlicht. Er wurde unter Babykram abgelegt und ist mit , , , , , , , , getaggt. Lesezeichen hinzufügen für Permanentlink. Folge allen Kommentaren hier mit dem RSS-Feed für diesen Beitrag.

2 Gedanken zu „Mutter des Jahres

  1. Schon einmal überlegt, wie schön das Ganze in Zeitlupe ausgesehen hat?

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